Wohin führt dieser Sommer für Nico Gross? Südostschweiz.ch
Mit dem Ende seiner Juniorenzeit steht die Karriere von Eishockeyspieler Nico Gross an einem Scheideweg. Das Coronavirus erschwert die Frage nach der Zukunft des Engadiners.
Eigentlich sollte er nicht hier sein. Nicht zu dieser Jahreszeit. Und doch passt das Bild irgendwie. Wie Nico Gross am Seeufer steht. Die Angelrute in der Hand. Mit stoischer Ruhe wartend auf den grossen Fang.
Das Fischen – es ist eine der grössten Leidenschaften des 20-jährigen Eishockeytalents aus dem Engadin. Schon als kleiner Junge hat ihn sein Vater, ebenfalls passionierter Fischer, jeweils an den Lej Languard oberhalb Pontresina mitgenommen. Seine Gelassenheit, seine Geduld – vielleicht hat Gross diese Qualitäten den vielen Stunden am Wasser zu verdanken. «Mich bringt so schnell nichts aus der Ruhe.» Oder: «Ich habe gelernt, spontan zu sein.» Immer wieder fallen solche Sätze im Gespräch. Erstaunlich angesichts der Situation, in der sich Gross befindet. Die Saison in Nordamerika wegen des Coronavirus abgebrochen. Der Start ins Sommertraining unter ungewohnten Umständen. Die nächste Saison verbunden mit vielen Fragezeichen. Und dies ausgerechnet im Sommer, der für die Karriere des Engadiners richtungsweisend sein sollte.
Reifejahre in jeder Hinsicht
Der Reihe nach. Es ist Sommer 2017, als Gross seine Heimat verlässt. 17-jährig. Befangen vom Traum, die grosse Eishockeywelt zu entdecken, wechselt er nach Kanada. Oshawa, eine Kleinstadt am Lake Ontario. 45 Zugminuten nordöstlich von Toronto. Viel gibt es hier nicht, bemerkt Gross schon bald. Ein paar Läden. Ein Kino. Doch gross ist wegen des Eishockeys hier. Die Oshawa Generals sind eines von 20 Teams der OHL, eine der drei höchsten Juniorenligen Nordamerikas. 6000 Zuschauer besuchen die Heimspiele im Tribute Communities Centre, mehr als bei manchem Schweizer National-League-Klub. Doch die ersten Monate sind schwierig. Zur fremden Sprache und der neuen Kultur kommt, dass Gross in seinem ersten Sommer in Übersee am Pfeifferschen Drüsenfieber erkrankt. Doch aufgeben, das will der Engadiner nicht. Ihm hilft, dass der Wechsel nach Kanada nicht sein erstes Abenteuer fern der Heimat ist. Bereits mit 14 Jahren hatte er sich entschlossen, seine vertraute Umgebung im Engadin hinter sich zu lassen, um sich der damals neu gegründeten EVZ Academy anzuschliessen.
Heute sagt Gross, er bereue das Abenteuer Übersee keine Sekunde. Er reifte nicht nur als Person, sondern machte auch auf dem Eis Fortschritte. Drei Mal nahm er während seiner drei Jahren in Kanada als Assistenzcaptain der Schweizer Nationalmannschaft an der U20-WM teil. 2019 gehörte er zur Equipe, die unter dem heutigen HCD-Trainer Christian Wohlwend sensationell ins Halbfinale vorstiess. In der vergangenen Saison wurde Gross von Trainer, Staffmitgliedern und Klubbesitzer der Oshawa Generals zum besten Verteidiger des Teams gekürt. Für den Bündner ist es die Bestätigung für die Fortschritte, die er in den letzten Monaten gemacht hat. «In Sachen Spielverständnis und Schlittschuhtechnik habe ich nochmals zugelegt», sagt Gross.
Hinzu kommen seine offensiven Qualitäten. 33 Skorerpunkte in 53 Partien sind eine beachtliche Quote für den Verteidiger. Gross’ Offensivdrang kommt jedoch nicht von ungefähr: Bis im Alter von zwölf Jahren lief er beim EHC St. Moritz noch als Stürmer auf, ehe ihn sein Trainer in die Defensive beorderte.
Rückkehr zum EVZ?
Als die Saison sechs Runden vor dem Ende der Qualifikation wegen des Coronavirus abgebrochen wurde, lagen die Generals auf dem 3. Platz ihrer Division. «Wir hätten weit kommen können», ist Gross überzeugt. Sein Frust hält sich in Grenzen, weil er bei seiner Rückkehr in die Schweiz sofort merkte, welche Dimensionen die Pandemie hierzulande bereits angenommen hatte. «In Kanada war das Virus Mitte März noch nicht richtig angekommen, erst hier nahm ich es so richtig wahr.» Viel schwieriger war für Gross der abrupte, teils kaum mehr mögliche Abschied von seinen Teamkollegen und seiner Gastfamilie, bei der er während seiner drei Jahren wohnte. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass er nach dem Sommer nochmals nach Oshawa zurückkehrt, ist minim. Im Januar ist Gross 20 geworden, seine Juniorenzeit ist damit zu Ende. Zwar dürfen in der OHL zwei Lizenzen an sogenannte «over aged player» vergeben werden, dass diese aber an ausländische Spieler gehen, ist äusserst selten. Und auch Gross selbst sagt: «Ich bin bereit für den nächsten Schritt.» Bereit fürs Erwachsenenhockey.
Wo Gross diesen nächsten Schritt macht, ist offen. Bis im Sommer gehört er rechtlich noch den New York Rangers, die ihn 2018 in der vierten Runde gedraftet hatten. Erhält er von den Rangers keinen neuen Vertrag – davon ist auszugehen – gelangt Gross als Free Agent auf den Markt und könnte von jedem anderen Team übernommen werden. Die AHL ist eine Option, die Rückkehr in die Schweiz eine andere. Mit seinem Ex-Klub Zug stand Gross auch während seiner Zeit in Nordamerika regelmässig in Kontakt, im Sommer bereitete er sich jeweils in der Innerschweiz auf die nächste Saison vor. «Wenn ich in die Schweiz zurückkomme, wäre der EVZ sicher meine erste Option», sagt Gross. Das hat nicht nur hockeytechnische Gründe. Vor seinem Wechsel nach Kanada begann der Bündner in Zug eine KV-Lehre. Diese könnte er bei einer Rückkehr wieder aufnehmen. Zwei Jahre fehlen noch zum Abschluss.
Corona als Unsicherheitsfaktor
Nordamerika oder Schweiz? Das Coronavirus erschwert die Frage nach Gross’ Zukunft. In Nordamerika ist derzeit alles stillgelegt. Wann und ob die NHL ihren Spielbetrieb wieder aufnehmen kann, ist unklar. Die AHL-Saison ist bereits abgebrochen. Kommt hinzu, dass die ungewisse sportliche und finanzielle Situation die Kaderplanung der Klubs sowohl in Übersee als auch in der Schweiz aufs Eis legt. Ein Grossteil der National-League-Klubs hat sich derzeit ein Einstellungsverbot erlassen, Transfers werden kaum mehr getätigt.
Gross nimmt die Ungewissheit über seine Zukunft mit der für ihn so typischen Gelassenheit. «Nicht nervös machen lassen von Dingen, die man nur schwer selber beeinflussen kann», lautet das Credo, das ihn schon seit jeher begleitet. «Ich bin mit 14 Jahren von zu Hause ausgezogen. Da lernt man, spontan zu sein und sich nicht verrückt machen lassen», so Gross.
Und so geniesst er es in dieser speziellen Zeit, mal wieder mehrere Wochen am Stück mit seiner Familie im Engadin zu verbringen. Er hält sich in einem privaten Fitness fit, geht biken, frönt seinem grössten Hobby, dem Fischen. Und er wartet auf den grossen Fang. An einem Bergsee – und auf dem Transfermarkt.